Vorsingen ETIDurch meine mehrjährige Tätigkeit als Gesangslehrer an einer Schauspielschule angeregt, will ich in diesem Artikel auf die Besonderheiten eingehen, die die Arbeit für Schauspieler mit der Singstimme mit sich bringt.

Lange Zeit konnten Schauspieler sagen, ihre Domäne sei das gesprochene Wort, die Singstimme bräuchte nur am Rande zu interessieren. Daraus hatte sich ein bestimmter Stil des Schauspielergesangs – auf der Basis der Sprechstimme – entwickelt.

Durch die Popularität des Musicals, das heute auch von jedem Stadttheater gespielt wird, haben die Sparten sich verwischt: in nahezu jedem Vorsprechen muss auch Vorgesungen werden, zumindest, wenn es sich um einen Zeitvertrag handelt. Das Theater will wissen, ob der Vorsprechkandidat Umgang mit seiner Singstimme hat, weil auch ein Musical zu besetzen ist, und auch im Schauspiel selbst die Musik einen immer breiteren Raum einnimmt.

Diese Anforderungen sind mit Mitteln der Sprechstimme nicht mehr zu erfüllen und meine ersten Erfahrungen an den Schulen waren, dass ein Austausch mit den betreffenen Sprecherziehern nur schwer stattfindet. Sprache und Gesang sind für sie zwei Bereiche, die nicht miteinander kommunizieren, eine Ansicht, die auch erst einmal auf die Studenten abfärbt. Das war aber nicht immer so.

Ich zitiere Quellen aus dem beginnenden 20. Jhrh. und älter (!):

„Es ist wohl das tiefste Geheimnis der Sprechkunst, das die Sprache einen musikalischen Klang annimmt, der jedoch nicht in „singen“ verfällt. Schon die Antike betonte dieses musikalische Element in der durch Sprachgewalt erhöhten Rede. Allerdings fehlt die dem Vibrato ähnliche Schwebung des Gesangstons im Sprechton, deshalb kann Sprechen niemals die Gesangstimme fördern, wohl aber ist das Umgekehrte der Fall.“ – Biehle, Stimmkunde
„Die uns angeborene Sprache und anerzogene Sprechweise ist schon so unnatürlich, dass sie nicht zum Ausgangspunkt einer stimmlichen Entwicklung genommen werden kann. Die Natur der menschlichen Stimme ist überhaupt nicht ohne Weiteres für die Kunst brauchbar, vielmehr erst nach ‚Hinwegräumen aller Kulturanhängsel‘.Das Material der Stimme muss deshalb auf einen Urbestand zusammengeschmolzen werden, ausdem die Neugeburt des Tones hervorgeht. Es gilt, den Organismus so umzubilden, dass er den Eigenton eines jeden Menschen erzeugt, ein Ton, der vollkommen mühelos, ja automatisch dem Munde entströmt, ohne durch irgendeine Methode beeinflusst zu sein. Diesen Primärton findet man nicht durch Üben von Hals-Mund-Zungen- und Kehlkopfstellungen, sondern unter vollständiger Verleugnung aller bisheriger Muskeltätigkeiten der Vokalwerkzeuge durch eine richtige Luftfunktion. Die ausströmende Luft ist aufzufangen, zu konzentrieren – was mit Atemtechnik im bisherigen Sinn nichts zu tun hat. Der so gebildete Sänger spielt mit klingender Luft.“ – Müller-Bruno,1890
„Versuche nie, deinen Ton zu ‚halten‘, spinne ihn aus. Halte deinen Atem.“ – Giovanni Battista Lamperti in den ‚Maximen zur vokalen Weisheit‘

Es wurde von Sprachgewalt und musikalischen Elementen gesprochen.Meine erste Erfahrung war, das versucht wurde, diese Sprachgewalt, nämlich mit der Stimme eine grosse Bühne füllen zu können, mit Mitteln des Wurfatems zu erreichen.

Allein dieser Begriff steht schon diametral gegenüber dem Bild, was Lamperti zeichnet und womit er in einer generationenübergreifenden Tradition steht: hier wird die Luft gebündelt und die Kraft der Stimme über die Fähigkeit, den Luftdruck von den Stimmbändern wegzuhalten, gewonnen.

Wie konnte es zu solchen unterschiedlichen Auffassungsweisen kommen?

Die Singstimme ist entwicklungsgeschichtlich viel älter. Sie war von Anbeginn kultisch eingebunden, rhythmischer Gesang begleitete die Arbeit.

Wir gehen heute davon aus, dass der ursprüngliche Mensch ein singender war.Schon allein der Bau unserer Stimmbänder zeigt dies: sie schwingen in ganzzahligen Verhältnissen (1:2;2:3;3:4 etc.)

Diese Schwingungsart braucht man nur, wenn man eine Obertonreihe produzieren will, d.h.,für Klang. Für die Sprache wird das nicht benötigt.

Wenn wir unsere Stimme erheben, schalten wir über einhundert Muskeln zusammen, das komplexeste System, was der Körper bauen kann – und wir brauchen es nur zum  Singen.Die Sprache ist eine viel später errungene Kulturleistung und kommt mit einem Bruchteil dieser Muskulatur aus. Sie benutzt also rudimentär ein vorhandenes System.

Vorsingen ETI 2Wenn jetzt, wie erkannt wurde, die Bühnenstimme in ihrer Kraft, im ‚Pathos‘ sich musikalischen Elementen nähert, heisst das ja, das sie Teile des grossen Muskulaturapparates der Singstimme benutzt. Das sind Zwerchfell, Einhängemechanismus des Kehlkopfes, Zwischenrippenmuskulatur, untere Abdominalmuskulatur,solar plexus und hintere Flankenmuskulatur etc.Es ist verständlich,dass man von diesem grossen System der Singstimme leichter auf das kleinere der Sprache hinunterschalten kann, als umgekehrt.

Schauspielern ist diese grosse Muskulatur oft unbekannt, oder sie ordnen sie eben allein der Singstimme zu. Sie versuchen dann, mit der ‚kleinen‘ Sprechmuskulatur die grosse Form, die sie für die grosse Bühne brauchen, zu immitieren.

Ergebnis davon ist oft nicht Sprachgewalt, sondern überzogene Stimmen, die keinen Sitz mehr haben, zu keiner farblichen Nuancierung mehr fähig sind, was zur Folge hat, das die dargestellte Figur klein und hilflos, ausser sich, neben sich, kurz – unglaubwürdig – erscheint.

Da Schauspieler auf das Wort konzentriert sind, fällt es ihnen schwer, die Klangebene zu betreten, sie scheuen oft sogar davor zurück. Klang zu produzieren kann etwas tief emotionale haben, während Sprache oft intellektuell bleibt.

Wenn sie jetzt spartenübergreifend arbeiten wollen, müssen sie sich den Klang erobern, der einen viel grösseren akustischen Raum benötigt.

Durch unsere allgemeine Fixierung auf die Schriftsprache schalten wir sowieso schnell auf kleinere Räume, vergessend, das die Sprache ja klangabbildend ist.

Mein erster Schritt in die Textbehandlung ist daher, zu untersuchen, welcher Klang denn tatsächlich gebildet wird, wenn ein Wort ‚gelesen‘ wird.(z.B. bei ‚Seite‘ klingt ein -a-, ich lese aber e,i, und sogleich gehe ich innerlich in eine engere Vokaleinstellung.) Der akustische Raum wird reduziert, weil die Sprechstimme allein im Mundraum, ungefähr 2 cm hinter dem Gesichtsfeld wahrgenommen wird.

Dieser Raum reicht auch für unsere Alltagskommunikation, die eine Distanz von 1-3 m überbrücken muss, aus. Wie aber soll ich damit einen Zuschauerraum von 500-1000 Plätzen beschallen?

Wir sind diese Wahrnehmung aber so gewöhnt, dass wir auch in grossen Räumen diese Funktion wählen und versuchen, sie über Atemdruck zu verstärken.

Das Ergebnis haben wir schon beschrieben.

Schauspieler müssen lernen, diese Wahrnehmung der Sprechstimme gänzlich aufzugeben, wenn sie in den grossen Raum des Klanges treten wollen. Die Vokale werden anders geformt und auch anders positioniert: durch die Aktivierung aller Kopfresonanzen und der Öffnung der Kehle entsteht das Gefühl, der Vokal wird hinter der Zunge in der weiten Kehle gebildet und klingt mehr ausserhalb von einem.

Die Akzeptanz dieser stimmlichen Wahrnehmung ist der erste Schritt zur Eroberung von wirklicher Stimmgewalt.