„It’s all body!“ – David L. Jones

In der Arbeit mit fortgeschrittenen Schülerinnen und Schülern mache ich immer wieder eine Erfahrung:

In der resonatorischen Arbeit ist oft ein Bewusstsein vorhanden, was sich in der Handhabung der Kopfresonanz und dem Anwenden eines Repertoires von Übungen für diesen Bereich zeigt.

Im Verlauf des Unterrichts wird aber oft deutlich, dass diese Arbeit kein Fundament hat: d.h., was in Übungen gelingt, kann nicht auf die jeweilige Literatur umgesetzt werden. Im nicht-klassischen Bereich wird dann eine Tonart gewählt, wo jede Registermischung vermieden wird, im klassischen wird auf Literatur zurückgegriffen, die den Ansprüchen des Vorsingwettbewerbs nicht standhält.

Resonanzarbeit contra Körperarbeit?

Die Folge ist ein beiden Fällen haltloses Forcieren der Stimme, um ein Ergebnis herzustellen, welches der Körper in diesem Moment nicht halten kann. Da ich diesen Vorgang häufig beobachte, ergibt sich die Frage, worin die Ursache liegt, dass der Resonanzarbeit so ein Vorrang eingeräumt wird, wobei die Körperarbeit vernachlässigt wird.

Als Alan Lindquest nach dem zweiten Weltkrieg begann, in Seminaren vor dem amerikanischen Gesangslehrerverband seine Konzepte der Körperanbindung für die Sängerstimme vorzuführen, erntete er eher Unverständnis und Ablehnung. Durch diese Reaktion wurde klar, was der Tenor der Sängerausbildung dies-und jenseits des Atlantiks war:

Man war bis dahin immer davon ausgegangen, dass bestimmte Stimmen eben ein geeignetes „Material“ besässen, welches dann in der Ausbildung resonatorisch gebildet und abgesichert wurde. Wie sehr der ganze Körper an diesem Prozess beteiligt ist, war bis zu der Zeit offenbar nicht klar.

Reich, Feldenkrais und Alexander

Lindquests Beobachtungen und Forschungen waren aber in generelle Erkenntnisse eingebettet, die zu jener Zeit auf vielfältigem Wege gemacht wurden: die Körperschulung des Yoga etablierte sich immer mehr, und damit eine ganzheitliche Betrachtungsweise des Zusammenhangs von Geist und Körper, Wilhelm Reich arbeitete an der Psychologie des Körpers, Moshé Feldenkrais, von der Physik herkommend, untersuchte die optimalen Bewegungsabläufe des Körpers und veröffentlichte 1948 seine ersten Schriften, F.M. Alexander kam mit seinen fundierten Beobachtungen von körperlichen Abläufen später dazu.

 Ines3Heute sind Elemente aus dem Feldenkrais-Training und der Alexandertechnik elementare Bausteine der sängerischen Arbeit (oder sollten es zumindest sein), weil die Körperwahrnehmung – wie fühlt sich ein richtiger Ton an? – die grundlegende Erkenntnis für alles darauf folgende künstlerische Schaffen ist. Hier liegt zunächst der Fokus unserer Aufmerksamkeit.

Der voll durchgestützte Ton als Klangstandard

Als Sänger kann ich einen Ton auf unzählige Arten produzieren, und einige der vielen Möglichkeiten klingen ganz zufriedenstellend – für unser Ohr. Da wir uns selbst aber immer mehr innen hören, besteht oft die Gefahr, dass wir einen Klang etablieren, der sich für uns selbst gut anhört. Für den beim Zuhörer realen Außenklang haben wir aber keinen Maßstab. Nur das Körpergefühl – wie fühlt sich ein Ton an, der außerhalb von mir klingt, kann hier eine Richtlinie sein.

Der voll durchgestützte Ton hat in unseren Breiten aber etwas Zweischneidiges. Zum Einen gibt es in Deutschland eine Stimmtradition, die diese Körperlichkeit des Klanges meidet und sehr die Kopfstimmbetonung sucht – sehr wichtig für den Liedgesang, aber schwerpunktmäßig auch nur da.

Zum Anderen höre ich immer wieder von Lehrern, dass sie regelrecht Angst vor einem durchgestützten Klang haben, und erklären ihn für ‚ungesund‘ und ‚gefährlich‘.

Natürlich hat ein voll durchgestützter Ton etwas mit großer Muskelaktivität zu tun, und der Sänger kann schnell vor der Erkenntnis stehn, dass der Körper diesen Klang nicht halten kann. Das hat aber nichts mit ungesundem Handeln oder Unvermögen zu tun, sondern ist lediglich das Zeichen einer nicht ausreichend trainierten Muskulatur.

Psychologische Auswirkungen

Das widerum hat enorme psychologische Auswirkungen: wir begeben uns hier beim Üben direkt in den Raum der bewussten Inkompetenz, einem Schwellenraum, den wir tunlichst meiden. Aber wie in jedem Schwellenraum ist hier der Ort, wo wir am meisten lernen. Wir haben die Chance, die Gewohnheit des Flüchtens in kompensierende Muskelfunktionen aufzugeben und die wirkliche innere Muskulatur zu aktivieren, die für den Halt der vollen Stimme verantwortlich ist.

Das Aufgeben der Gewohnheit und Etablieren einer gänzlich neuen Funktion bedarf der kontinuierlichen Übung.

Ich erinnere mich an die Anmerkung eines Schülers, ein Arzt, der gerade auf einem Kongress für neurologische Forschungen gewesen war:

„Andreas, jetzt weiss ich, warum wir als Sänger so viel üben müssen – wenn wir einen neuen Bewegungsablauf im Unterbewusstsein speichern wollen, müssen wir diesen Ablauf 60-100 000 mal gemacht haben!“

Tröstlich ist, das wir diesen Ablauf schneller speichern können, weil es kein komplett neuer, erfundener ist, sondern der Körper hat das alles schon einmal gekonnt – als Kind waren uns diese Abläufe unbewusst vertraut, und heute erinnert sich der Körper dankbar.

Dennoch muss in kontinuierlichem Üben die Gewohnheit überwunden werden.

Jede Gedächtnisinformation ist abrufbar

„… jegliche Gedächtnisinformation liegt der Permanenz zugrunde: jede Information ist abrufbar: einmal gespeicherte Informationen können abgerufen werden und stehen dem Organismus zur Verfügung…(Tongebung bei Kindern)…Abrufen erfolgt durch Stimulierung. Bei jeglicher Stimulierung reagiert der Körper in angeborenen Reaktionsmustern oder mit durch Lernerfahrungen erworbenen Responsen. Ziel ist es, die in Informationsspeichern aufbewahrte Lernerfahrung wieder verfügbar zu machen. Durch multiples Stimulieren kommen Strukturen in Bewegung und können in einem Lernprozess modifiziert, neu formiert oder gänzlich neu gebildet werden.“ – Norman/ Petzold: Die neuen Körpertherapien

Das eigene Instrument: der singende Mensch

InesDa der singende Mensch sein eigenes Instrument ist, muss dieses Instrument (der Körper) auch relativ gut funktionieren. Das ist bei uns allen generell nicht mehr der Fall. Im Gegenteil haben wir uns mit gängigen Verkrampfungen und Verspannungen arrangiert und registrieren sie meistens nicht einmal mehr als solche. Dies äussert sich in allererster Linie über eine Beschränkung der Atemfunktion. Die Bewegung wird nicht mehr primär vom Atem gelenkt, sondern von den Muskeln allein.

Der wichtigste Grund für die Beeinträchtigung der Stimmentfaltung liegt jedoch im Kopf: Wir können nur so gut singen, wie wir uns einen Ton vorstellen können. Doch letzten Endes wissen wir nicht (mehr), wie diese Vorstellung vonstatten geht, weil wir die Körperwahrnehmung für diesen Ton verloren haben.

Generell kann man sagen, dass nahezu alles, was wir zur bewussten Tonproduktion unternehmen, mithilfe von falschen Muskeln gesteuert wird. (Feldenkrais spricht in diesem Zusammenhang von ‚parasitären Aktivitäten‘).

Hier erscheint eine wirkliche Hürde: der oder die Singende muss es ertragen, dass die einzelnen Funktionen, die einmal eine vollwertige Stimme ergeben sollen, erst einmal isoliert betrachtet (quasi gereinigt) werden müssen. Es entsteht Hilflosigkeit, wenn wir erfahren, dass bestimmte falsche Muskelaktivitäten (Zunge, Kiefer, Nacken etc.) so ohne Weiteres gar nicht beeinflussbar sind.

Modifizierung der Selbsteinschätzung

Daher müssen wir immer wieder Übungen finden, die den eigenen Körper überraschen, um eingeschliffene Muster zu durchbrechen.

Ich mache mit meinen Schülern und Schülerinnen immer wieder die Erfahrung, dass sich viele Schwierigkeiten auflösen, wenn man den eigenen Willen ruhen lässt und die Stimme sich ihren Weg suchen lässt – wir also auf das uralte Wissen unseres Körpers hören und ihm vertrauen.

Damit betreten wir den Raum der Selbsteinschätzung, die durch die Erfahrungen, die wir mit der Stimme machen, vielleicht modifiziert werden muss: es kann passieren, das einige Errungenschaften des (Stimm-) Lebens nicht mehr volle Gültigkeit haben und bestimmte Ebenen einfach neu definiert werden müssen.